Wenn es ums Körpergewicht geht, verstummen viele Gespräche abrupt – besonders in der Schweiz. In einem Land, das für seine Diskretion, Neutralität und Zurückhaltung bekannt ist, fällt es vielen schwer, offen über die Zahl auf der Waage oder das eigene Körperbild zu sprechen.
Doch es ist nicht nur die Erziehung oder Kultur, die hier eine Rolle spielt – es ist ein vielschichtiges Zusammenspiel aus gesellschaftlichen Normen, individueller Prägung, Schamgefühl und fehlender Gesprächskultur. Aber was steckt wirklich hinter dieser Zurückhaltung? Warum vermeiden Schweizer:innen so oft das Thema Gewicht – selbst im engsten Familien- oder Freundeskreis?
Ein kulturelles Phänomen: Diskretion als Lebensstil
Die schweizerische Mentalität ist stark von Zurückhaltung geprägt. Persönliche Themen werden selten breitgetreten, schon gar nicht öffentlich. Körperliche Veränderungen, Krankheiten oder eben das Gewicht gehören für viele zur Privatsphäre – und über Privates spricht man nicht.
Wer in der Schweiz lebt, kennt diesen feinen, aber konsequent gelebten Unterschied zwischen „persönlich“ und „privat“. Diese Unterscheidung ist tief in der schweizerischen Gesellschaft verwurzelt. Man möchte niemandem zu nahe treten, keine Grenzen überschreiten und schon gar keine unangenehmen Themen aufdrängen. Der Preis dieser Höflichkeit ist oft ein Mangel an echtem Austausch.
Das Gewicht – ein Thema zwischen Scham und Stolz
Hinter dem Schweigen steckt oft mehr als reine Höflichkeit. Viele Menschen empfinden ihr Gewicht als Spiegelbild ihrer Disziplin – oder eben ihrer „Schwäche“. In einer leistungsorientierten Gesellschaft wie der Schweiz, in der Eigenverantwortung hoch im Kurs steht, wird Übergewicht oft als persönliches Versagen gewertet.
Gleichzeitig gilt es als unhöflich, andere darauf anzusprechen – was die Gesprächsvermeidung weiter verstärkt. Dabei ist das Gewicht ein Resultat vieler Einflüsse: genetischer Veranlagung, psychischer Gesundheit, sozialer Umstände, Ernährung und Bewegung. Doch diese Komplexität wird selten berücksichtigt.
Sozialer Druck trotz Diskretion
Obwohl man selten offen über Gewicht spricht, ist der soziale Druck in der Schweiz keineswegs geringer als anderswo. Wer stark zu- oder abnimmt, wird sehr wohl wahrgenommen – auch wenn niemand etwas sagt. Der Blick sagt oft mehr als Worte. Besonders in ländlichen Regionen oder im Berufsleben kann das Körperbild unterschwellig eine grosse Rolle spielen. Wer aus der vermeintlichen „Norm“ fällt, spürt das – subtil, aber deutlich. Kleidergrössen, Blicke beim Schwimmbadbesuch, Kommentare hinter vorgehaltener Hand: All das sind stille, aber wirkungsvolle Signale.
Medien, Ideale und das stille Vergleichen
Auch in der Schweiz sind Schönheitsideale allgegenwärtig. Medien, Werbung und Social Media zeichnen ein Bild von Gesundheit, Fitness und Körperform, das für viele nur schwer erreichbar ist. Der Druck, diesem Ideal zu entsprechen, wirkt im Verborgenen. Weil aber kaum jemand darüber spricht, glauben viele, sie seien allein mit ihrem „Problem“ – was wiederum das Schweigen verstärkt.
Der Vergleich mit Influencer:innen, Sportler:innen oder Prominenten ist allgegenwärtig. Auch Fitness-Apps, Schrittzähler oder digitale Ernährungstagebücher tragen zum Gefühl bei, ständig bewertet zu werden – oft von sich selbst.
Zwischen Individualismus und Gruppenzwang
Die Schweiz ist ein Land der Individualisten – aber eben auch der stillen Anpassung. Wer aus der Reihe tanzt, fällt auf. Das kann gut sein, aber oft auch unangenehm. Gerade beim Thema Gewicht – das visuell sofort wahrnehmbar ist – entsteht eine Spannung zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Angst, bewertet zu werden.
Deshalb vermeiden viele das Thema lieber ganz. Man möchte nicht auffallen, nicht anecken, nicht kommentiert werden – weder positiv noch negativ. Die Folge: Man bleibt lieber im Ungefähren.
Die Rolle der Familie: Nähe, aber keine Worte
In vielen Schweizer Familien ist es üblich, über Ernährung zu sprechen – aber nicht über Gewicht. „Iss deinen Teller leer“ oder „Das ist aber nicht figurfreundlich“ sind Sätze, die durchaus fallen. Doch konkrete Aussagen wie „Ich fühle mich unwohl“ oder „Ich habe zugenommen“ hört man selten. Dabei wäre gerade das familiäre Umfeld ein Ort, an dem offenes Sprechen heilsam sein könnte. Wenn Kinder erleben, dass Erwachsene sensibel und offen über Körper, Gewicht und Wohlbefinden sprechen, lernen sie, ihren eigenen Körper anzunehmen und Veränderungen nicht zu tabuisieren.
Ärztliche Beratung: neutral, aber nicht immer motivierend
Auch im medizinischen Bereich wird das Thema Gewicht oft sachlich abgehandelt – was einerseits hilfreich, andererseits aber auch distanziert wirken kann. Wer in der Schweiz über sein Gewicht mit Fachpersonen spricht, bekommt häufig Zahlen, Diagramme und Empfehlungen – aber selten emotionale Unterstützung. Das kann abschreckend wirken und den Wunsch nach Austausch weiter bremsen. Dabei könnten Hausärzt:innen, Ernährungsberater:innen und Psycholog:innen wichtige Brückenbauer sein, wenn sie nicht nur medizinische Fakten, sondern auch empathische Gespräche anbieten würden.
Die Angst vor Stigmatisierung
Ein ganz zentraler Punkt ist die Angst, stigmatisiert zu werden. In der Schweiz gelten Übergewicht und Adipositas trotz wachsender gesellschaftlicher Diskussionen oft noch als vermeidbar – und damit als selbstverschuldet. Diese Haltung führt dazu, dass Betroffene sich schämen oder rechtfertigen, statt offen zu sprechen. Die Folge: Isolation statt Inspiration. Besonders problematisch ist dies, wenn Menschen aus Angst vor Verurteilung gar keine Hilfe mehr suchen – obwohl genau diese Hilfe nötig wäre.
Wenn Gewicht zum Beziehungsthema wird – und wann nicht
In Paarbeziehungen oder engen Freundschaften kann das Thema Gewicht entweder tabu oder Dauerthema sein. Besonders dann, wenn eine:r abnehmen möchte, die andere Person aber nicht. Oder wenn sich Gewichtszunahme auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Doch viele Schweizer:innen scheuen sich davor, selbst hier Klartext zu reden – aus Angst, verletzt zu werden oder zu verletzen. Häufig stehen unausgesprochene Erwartungen im Raum, die das Vertrauen belasten. Dabei kann ein ehrliches Gespräch entlastend und verbindend wirken, wenn es respektvoll geführt wird.
Das grosse Missverständnis: Reden heisst nicht kritisieren
Ein wesentlicher Grund für die Sprachlosigkeit liegt in einem Missverständnis: Wer über sein Gewicht spricht, riskiert, als belehrend, verurteilend oder gar verletzend wahrgenommen zu werden. Dabei kann genau das Gegenteil der Fall sein – wenn der Ton stimmt. Doch weil diese Unterscheidung nicht selbstverständlich ist, wird lieber geschwiegen. Es braucht Mut, Sensibilität und Übung, um die richtigen Worte zu finden – aber dieser Weg lohnt sich.
Sprache und Scham: „dick“ ist kein neutrales Wort
Die deutsche Sprache – auch in der Schweiz – hat nur wenige neutrale Begriffe für Übergewicht. „Dick“ klingt für viele hart, „füllig“ beschönigend, „übergewichtig“ klinisch. Diese Unsicherheit in der Sprache trägt dazu bei, dass das Thema gemieden wird. Wenn einem die Worte fehlen, schweigt man lieber. Dabei wäre eine neue Sprachkultur dringend nötig – mit Begriffen, die beschreiben statt bewerten, die neugierig machen statt verurteilen.
Ein Schweizer Spezialfall: Gesundheit ja, Gewicht nein
Interessanterweise sind Themen wie gesunde Ernährung, Bewegung oder Prävention in der Schweiz sehr präsent – auch in der Öffentlichkeit. Zahlreiche Kampagnen fördern einen gesunden Lebensstil. Doch sobald es um konkrete Kilos oder sichtbare Körperveränderungen geht, kippt das Gespräch. Es bleibt allgemein, neutral, unverbindlich. Gewicht ist ein Thema, das man indirekt anspricht – oder gar nicht. Selbst in Gesundheitskampagnen werden Bilder bewusst neutral gehalten, um nicht zu stigmatisieren – ein Zeichen für Sensibilität, aber auch für die tiefe Verwurzelung des Tabus.
Wie man das Tabu brechen kann – ohne plump zu sein
Es ist möglich, in der Schweiz über das Gewicht zu sprechen – aber es braucht Fingerspitzengefühl, Respekt und Timing. Ein guter Anfang ist das eigene Erleben: Wer von sich spricht, öffnet Türen. Auch Fragen wie „Wie geht es dir mit deinem Körper im Moment?“ sind sensibel und einladend. Gruppengespräche, geleitete Runden in Beratungsstellen oder niederschwellige Angebote können ebenfalls helfen, erste Worte zu finden.
Zwei Tipps für ein gutes Gespräch über das Gewicht:
- Sprich zuerst über dich, nicht über andere. Wer eigene Erfahrungen teilt, schafft Vertrauen und nimmt die Schärfe aus dem Thema.
- Nutze offene Fragen statt Bewertungen: „Was tut dir gerade gut?“ wirkt anders als „Hast du zugenommen?“
Chancen für einen neuen Umgang mit dem Thema
Die gute Nachricht: Es bewegt sich etwas. Gerade in urbanen Regionen der Schweiz – Zürich, Basel, Bern – wächst das Bewusstsein für Body Positivity, psychische Gesundheit und individuelle Wohlfühlgewichte. Jüngere Generationen sind offener, diverser, gesprächsfreudiger.
Sie nutzen Social Media, Podcasts oder Gruppengespräche, um das Thema zu enttabuisieren. Auch Schulen und Jugendarbeit greifen das Thema zunehmend auf – mit Workshops, Theaterprojekten oder Diskussionsrunden. Die Hoffnung: Wer früh lernt, über den eigenen Körper zu sprechen, wird als Erwachsene:r selbstbewusster damit umgehen.
Fazit: Reden tut gut – auch (oder gerade) in der Schweiz
Auch wenn es ungewohnt erscheint: Über das eigene Gewicht zu sprechen, kann entlasten, verbinden und motivieren. In einem Land wie der Schweiz braucht es dazu vielleicht etwas mehr Feingefühl – aber es lohnt sich. Denn wer schweigt, bleibt allein. Wer spricht, findet oft mehr Verständnis, als er erwartet hätte. Und vielleicht beginnt ein gesellschaftlicher Wandel genau mit dem Mut, ein Tabu zu brechen – leise, respektvoll, aber bestimmt.