In einer Welt voller Diäten, Schönheitsideale und BMI-Rechner fällt es schwer, zu unterscheiden, wann Übergewicht tatsächlich gefährlich ist – und wann es einfach nur ein paar Kilos zu viel sind. Die Grenzen sind oft fliessend, gesellschaftliche Urteile hart und medizinische Definitionen nicht immer eindeutig. Gerade in der Schweiz, wo Gesundheitsvorsorge und Lebensqualität grossgeschrieben werden, stellt sich immer öfter die Frage: Wann genau wird Übergewicht zur Krankheit? Und welche Massstäbe sind überhaupt sinnvoll? Dieser Artikel beleuchtet die wissenschaftlichen Grundlagen, zeigt auf, wie Mediziner:innen Übergewicht einstufen und ab wann eine ärztliche Behandlung nötig oder empfehlenswert ist – differenziert, fundiert und verständlich erklärt.
Was ist Übergewicht – und wie wird es gemessen?
Übergewicht bedeutet zunächst einmal, dass jemand mehr Körpermasse besitzt, als es dem statistisch festgelegten Normalbereich entspricht. Die gängigste Messgrösse dafür ist der Body-Mass-Index (BMI), der das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergrösse bewertet. Die Formel lautet:
BMI = Gewicht in kg / (Grösse in m)^2
Beispiel: Eine Person mit 85 kg bei einer Körpergrösse von 1,75 m hat einen BMI von rund 27,8.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet folgende Einteilung:
- Untergewicht: unter 18,5
- Normalgewicht: 18,5 bis 24,9
- Übergewicht (Präadipositas): 25 bis 29,9
- Adipositas Grad I: 30 bis 34,9
- Adipositas Grad II: 35 bis 39,9
- Adipositas Grad III (morbide Adipositas): ab 40
Das heisst: Wer einen BMI über 25 hat, gilt medizinisch als übergewichtig. Doch das allein sagt noch wenig darüber aus, ob jemand tatsächlich krank ist oder ein Gesundheitsrisiko trägt.
Warum der BMI allein nicht reicht
Der BMI ist ein einfaches Werkzeug – aber kein perfektes. Er unterscheidet nicht zwischen Muskelmasse und Fettmasse, ignoriert Alter, Geschlecht und Körperbau. Ein sportlicher Mensch mit viel Muskelmasse kann genauso im „Übergewichtsbereich“ liegen wie jemand mit zu viel Bauchfett. Ausserdem berücksichtigt der BMI nicht, wo das Fett sitzt – dabei spielt die Fettverteilung eine entscheidende Rolle für die Gesundheit.
Deshalb ergänzen viele Mediziner:innen die BMI-Werte mit weiteren Messgrössen wie:
- Taillenumfang: Hinweise auf viszerales (inneres) Bauchfett
- Taille-Hüft-Verhältnis (WHR): Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang
- Körperfettanteil in % (z. B. via BIA-Messung)
- Stoffwechselwerte: Blutzucker, Blutfette, Leberwerte etc.
Erst die Kombination dieser Daten erlaubt eine realistische Einschätzung, ob das Übergewicht ein medizinisches Problem darstellt.
Ab wann ist Übergewicht krankhaft?
Übergewicht wird dann zur Krankheit, wenn es entweder direkt zu körperlichen Schäden führt oder nachweislich das Risiko für bestimmte Erkrankungen erhöht. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sowie internationale Fachgesellschaften sprechen von „behandlungsbedürftigem Übergewicht“, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
- Adipositas Grad I oder höher (BMI ≥ 30)
- BMI 25–29,9 mit metabolischen Risikofaktoren, z. B. Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte, Prädiabetes
- Bauchumfang über den Grenzwerten (Frauen > 88 cm, Männer > 102 cm)
- Nachweislich eingeschränkte Lebensqualität durch das Gewicht, z. B. Gelenkschmerzen, Schlafapnoe oder psychische Beschwerden
Kurz gesagt: Ein paar Kilos zu viel sind noch kein Grund zur Panik – aber wenn die Begleiterscheinungen dazukommen, ist Übergewicht eine ernstzunehmende medizinische Diagnose.
Die unsichtbaren Folgen: Wenn das Risiko wächst
Viele der gesundheitlichen Auswirkungen von Übergewicht zeigen sich nicht sofort, sondern schleichend über Jahre hinweg. Besonders gefährlich ist dabei das viszerale Fett – also jenes, das sich im Bauchraum um die Organe ablagert. Es produziert entzündungsfördernde Botenstoffe, erhöht die Insulinresistenz und belastet das Herz-Kreislauf-System.
Zu den häufigsten Folgekrankheiten zählen:
- Typ-2-Diabetes
- Bluthochdruck (Hypertonie)
- Fettstoffwechselstörungen (hohes LDL, niedriges HDL)
- Herzinfarkt und Schlaganfall
- Nicht-alkoholische Fettleber (NAFLD)
- Arthrose, besonders in Knien und Hüften
- Schlafapnoe und Atemprobleme
- Bestimmte Krebsarten (z. B. Darm, Brust, Gebärmutter)
Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen oder soziale Ängste treten bei übergewichtigen Menschen häufiger auf – nicht zuletzt aufgrund gesellschaftlicher Stigmatisierung.
Der schmale Grat: Zwischen normal, auffällig und krank
Es gibt keine glasklare Linie, ab wann ein Mensch als krank gilt. Die Medizin arbeitet heute mit sogenannten Risikostufen. Dabei wird nicht nur das Gewicht an sich bewertet, sondern auch:
- körperliche Beschwerden
- Laborwerte
- familiäre Vorbelastung
- Lebensgewohnheiten
- psychisches Befinden
Ein 65-jähriger Mann mit BMI 28, hoher Fitness und stabilen Blutwerten ist weniger gefährdet als eine 35-jährige Frau mit BMI 26, aber bereits erhöhtem Blutzucker und Bluthochdruck. Medizinische Bewertung ist also immer individuell – keine Schablone.
Der Blick auf die Schweiz: Zahlen, Daten, Fakten
Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung leben rund 42 % der Erwachsenen in der Schweiz mit Übergewicht, davon etwa ein Viertel mit einem BMI über 30. Die Zahlen steigen seit Jahrzehnten langsam, aber stetig. Auch bei Kindern und Jugendlichen nimmt Übergewicht zu – mit teilweise drastischen Unterschieden je nach Bildungsgrad, Migrationshintergrund und Region.
Gerade in der Altersgruppe 45–74 Jahre ist der Anteil der Betroffenen hoch. Frauen sind dabei insgesamt etwas seltener übergewichtig, weisen aber höhere Raten bei Adipositas Grad II und III auf. Die Schweizer Fachgesellschaft für Ernährung und das Bundesamt für Gesundheit sehen daher dringenden Handlungsbedarf – nicht erst bei Adipositas, sondern schon im „Vorstadium“ Übergewicht.
Frühzeitige Diagnose – grosse Wirkung
Viele gesundheitliche Schäden durch Übergewicht entstehen nicht über Nacht, sondern sind das Resultat jahrelanger Belastung. Deshalb ist eine frühzeitige ärztliche Einordnung so entscheidend. Wer rechtzeitig professionelle Hilfe sucht, kann oft viel bewirken:
- Stoffwechsel normalisieren, bevor Diabetes entsteht
- Gelenke entlasten, bevor Schmerzen chronisch werden
- Lebensstil anpassen, solange noch Spielraum besteht
- Krankenkassenangebote nutzen, solange Prävention noch greift
Gerade in der Schweiz gibt es zahlreiche niederschwellige Angebote zur Früherkennung und Unterstützung – von Check-ups beim Hausarzt bis zu Gesundheitsprogrammen der Krankenkassen.
Wann sollte man zum Arzt oder zur Ärztin?
Nicht jeder kleine Bauchansatz muss sofort behandelt werden – aber es gibt klare Warnsignale, bei denen eine medizinische Einschätzung ratsam ist:
- deutliche Gewichtszunahme innerhalb kurzer Zeit
- ständige Müdigkeit, trotz ausreichend Schlaf
- Atemprobleme bei geringer Belastung
- erhöhter Blutdruck oder Blutzucker
- wiederkehrende Schmerzen in Gelenken oder Rücken
- anhaltendes Unwohlsein im eigenen Körper
Auch Menschen mit familiärer Vorbelastung (z. B. Diabetes, Herzinfarkt) sollten ihr Gewicht und ihre Werte regelmässig überprüfen lassen.
Was tun, wenn das Gewicht zum Problem wird?
Die gute Nachricht: Übergewicht ist in vielen Fällen behandelbar – ohne radikale Diäten oder medizinische Eingriffe. Wichtig ist eine individuelle Herangehensweise, die nicht auf Verbote, sondern auf Veränderung setzt.
Empfohlene Schritte:
- Ernährungsumstellung: Mehr frische, unverarbeitete Lebensmittel, regelmässige Mahlzeiten, weniger Zucker und Fett
- Bewegung im Alltag: 150 Minuten moderate Aktivität pro Woche (z. B. zügiges Gehen, Velofahren, Schwimmen)
- Verhaltenstherapie: Unterstützung bei emotionalem Essen, Stressbewältigung, Selbstwirksamkeit
- Begleitung durch Fachpersonen: Hausarzt, Ernährungsberater:in, Psycholog:in
Bei schwerem Übergewicht oder beginnenden Folgeerkrankungen kann auch eine medikamentöse Unterstützung oder in Ausnahmefällen eine bariatrische Operation sinnvoll sein.
Wann übernimmt die Krankenkasse?
In der Schweiz übernimmt die Grundversicherung gewisse Leistungen nur bei krankhafter Adipositas (BMI über 35 mit Begleiterkrankungen oder BMI über 40). Dazu gehören beispielsweise:
- ärztlich verordnete Ernährungstherapie
- Bewegungstherapie bei entsprechender Diagnose
- Medikamente bei Vorliegen spezifischer Kriterien
- Operationen wie Magenbypass oder Schlauchmagen (nach Evaluation)
Wichtig: Viele Zusatzversicherungen decken weitere Leistungen ab – etwa Gesundheitscoaching, Fitnessabos oder psychologische Unterstützung. Eine frühzeitige Beratung lohnt sich.
Fazit: Nicht jedes Übergewicht ist eine Krankheit – aber oft ein Warnsignal
Übergewicht ist nicht gleich Krankheit. Doch ab einem gewissen Punkt – insbesondere in Kombination mit anderen Risikofaktoren – wird es medizinisch relevant. Die Grenze liegt nicht allein beim BMI, sondern in der Gesamtschau: Blutwerte, Beschwerden, genetische Veranlagung und Lebensqualität spielen ebenso eine Rolle.
Wer erste Anzeichen erkennt und rechtzeitig handelt, hat die besten Chancen, seine Gesundheit langfristig zu schützen – mit oder ohne Gewichtsreduktion.